mittelalterliche Literatur in Südwesteuropa

mittelalterliche Literatur in Südwesteuropa
mittelalterliche Literatur in Südwesteuropa
 
An manchen Orten auf der Iberischen Halbinsel stößt man auf ein faszinierendes Phänomen: Wie in Schichten übereinander angeordnet, trifft man auf religiöse Kultstätten von Römern, Juden, Muslimen und Christen, die zeichenhaft die höchst komplexe kulturelle Durchmischung in diesem Teil Europas widerspiegeln. Die Romanisierung Spaniens setzte im zweiten vorchristlichen Jahrhundert mit römischen Städtegründungen ein. Möglicherweise begann die Christianisierung der Halbinsel bereits mit einer der Missionsreisen des Apostels Paulus im 1. Jahrhundert. Ein klares Zeugnis für die Existenz des Christentums seit dem dritten Jahrhundert ist das Konzil von Elvira. Dort artikulierte sich aber auch schon jener Antisemitismus, der Spaniens Geschichte für Jahrhunderte prägen sollte. Als sich die politische Lage auf der Iberischen Halbinsel unter den Westgoten nach Jahrzehnten der Wirren im fünften Jahrhundert wieder stabilisierte, schien sich zeitweilig auch die Situation der Juden zu verbessern.
 
Mit dem Übertritt der Westgoten zum Katholizismus unter Rekkared im Jahre 587 nahmen die sozialen und politischen Pressionen gegen sie wieder zu. So verbot das dritte Konzil von Toledo 589 unter anderem christlich-jüdische Ehen und den Juden den Erwerb von. Christen als Sklaven. Kaum 100 Jahre später wollte man sie am liebsten ganz ausmerzen und der fürchterliche König Egika sah in den Juden einen wesentlichen Grund für den Niedergang der Westgotenherrschaft. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade die Juden die Araber unterstützten, nachdem diese den letzten Gotenkönig Roderich in der Schlacht am Guadalete 711 besiegt und damit dem Westgotenreich den Todesstoß versetzt hatten. Ungefähr drei Jahre brauchten die Muslime, um ihre Eroberung auch militärisch abzusichern, dabei stießen sie jedoch besonders im nordwestlichen Teil der Halbinsel immer wieder auf christliche Widerstandskämpfer. Denen gelang es nach legendarischer Überlieferung am 28. Mai 722, den Eindringlingen bei Covadonga eine Niederlage zuzufügen. Dieses Datum markiert den Beginn der Reconquista, der christlichen Rückeroberung der von Arabern besetzten Gebiete, die erst unter den katholischen Königen mit dem Fall Granadas am 2. Januar 1492 ihr Ende fand.
 
Die zurück gewonnenen Gebiete wurden so bald wie möglich wieder besiedelt. So entstanden nicht nur in den großen kulturellen Zentren der arabischen Kunst und Gelehrsamkeit wie Córdoba oder Sevilla Formen des friedlichen Zusammenlebens, sondern auch auf dem Land. Und entsprechend durchmischten und bereicherten sich wechselseitig nicht nur christliche, jüdische und arabische Bildung und Wissenschaft, sondern in vielfältiger Weise auch alle möglichen Bereiche des Alltagslebens.
 
Dieses soziale und kulturelle Zusammenspiel brachte so herausragende Persönlichkeiten hervor wie den Grafen Sisnando Davídiz, der im 11. Jahrhundert als Mozaraber, das heißt als Christ, der auf muslimischen Gebiet lebt, zwischen seinen Glaubensgenossen und den Muslimen politisch zu vermitteln suchte, oder den im Jahre 1106 zum Christentum übergetretenen Juden Petrus Alfonsi, dessen »Disciplina clericalis« (»Die Kunst, vernünftig zu leben«) mit ihrer Sammlung von beispielhaft-belehrenden Anekdoten aus orientalischer und abendländischer Tradition den europäischen Literaturen der folgenden Jahrhunderte in ihren vielfachen Bearbeitungen zum immer wieder genutzten Erzählreservoir wurde. Die Übersetzungen schließlich, die man hier im 12. Jahrhundert aus dem Arabischen und dem Hebräischen erstellte, sind ein weiteres Ergebnis dieser kulturellen Überlagerung. Die Übersetzerschule von Toledo, die im 13. Jahrhundert unter König Alfons dem Weisen blühte, institutionalisierte gewissermaßen die kulturellen Bereicherungsmöglichkeiten, die sich aus der sprachlichen und ideologischen Vielgestalt der Iberischen Halbinsel ergaben.
 
Aus der kulturellen Vielfalt des mittelalterlichen Spaniens gingen auch jene kleinen romanischen Liebeslieder, die »Jarchas« hervor, deren Veröffentlichung 1948 einer wissenschaftlichen Sensation gleich kam. Sie bestätigte die längst geäußerte Vermutung, dass man auch während der Reconquista nicht auf die einfachen Lieder verzichtet hatte, die Freude oder Trauer, Hoffnung, Sehnsucht oder Todesstimmung der Liebenden beschreiben. Die vierzeiligen Texte wurden an das Ende eines größeren Sinn- oder Gedankengedichts angefügt. Sie konnten dessen Anlass sein; immer waren sie nach dem Empfinden der Dichter dessen Glanzpunkt, Würze und Leuchten. Die älteste, um 1042 entstandene Jarcha steht am Schluss des folgenden Preisliedes:»Mein Herr, mein Fürst, Sohn eines berühmten Vaters, höre mein Lied! Habe Mitleid mit mir und heile meine Wunden zur Belohnung für mein Geschenk. Ich werde für dich zu unserem Gott beten, der unser Heil und unser Licht ist. Ich werde auch ein Liebeslied singen, das schönste, das ich kenne. ..«.
 
Die andeutende Innigkeit der Jarchas wird sich in den altportugiesischen »Cantigas de amigo« des 13. Jahrhunderts kunstvoll fortsetzen. Das »Freundeslied«, so die wörtliche Übersetzung von »Cantiga de amigo«, ist das Lied, das eine junge Frau ihrem abwesenden Geliebten sehnsüchtig nachsingt, klagend und hoffend, kokett oder verschämt. Das schriftlich zumindest seit dem 13. Jahrhundert überlieferte Genre weitet die in den Jarchas angelegte Grundsituation durch die Einbeziehung der Mutter, durch die Andeutung von Naturszenarien oder durch eine Begründung der Abwesenheit des Freundes aus.
 
Die kriegerische Grundstimmung allerdings, die sich auch in der theologisch-moralischen Rechtfertigung militärischer Vorgehensweisen ausdrückte, die wir zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert beobachten, konnte ihren literarischen Ausdruck nicht in diesen zarten lyrischen Gespinsten von Wehmut und Stille finden, sie verlangte vielmehr nach einem Kämpfer, nach der Identifikationsfigur eines epischen Helden. Um 1043, also in unmittelbarer Nähe zur Entstehungszeit der ersten »Jarcha«, wurde er nördlich von Burgos, in Vivar, geboren: Rodrigo Díaz, von seinen maurischen Schützlingen später mit dem Titel »Mio Cid« (= mein Herr) geehrt. Das ihm gewidmete Epos, der »Cantar de Mio Cid«, das »Lied von meinem Cid«, das wahrscheinlich um 1180 entstand, entwirft von ihm das Idealbild des christlichen Ritters und Vasallen, des fürsorglichen Familienvaters und treuen Freundes, des stets überlegenen, listigen und starken Gegners von Juden, Muslimen und moralisch unwürdigen. Christen. Der Zusammenklang von herausragender Individualität und Suche nach nationaler Identität ließ ihn zur Personifizierung der moralischen Berechtigung der Reconquista werden.
 
Singen und Sagen, Lyrik und Epik, standen also auch in Spanien am Beginn der Literatur in der Volkssprache. Sie entfaltete sich vom Ende des 12. Jahrhunderts in zunehmender Fülle. Neben Heiligenviten und Wundergeschichten standen weitere epische Texte. Alfons der Weise ließ Gesetzessammlungen anlegen, Chroniken zusammenstellen, Teile der wissenschaftlichen Literatur der Araber übersetzen und verfasste selbst in altgalizischer Sprache Marienlieder, die uns in Handschriften überliefert sind, die wohl auch nach seinen Plänen wunderbar ausgemalt und zum Teil mit musikalischer Notierung versehen wurden. Von ihm und seinem Bruder Fadrique angeregt, wurden orientalische Kurzerzählungen ins Kastilische übersetzt, die nach England, Deutschland, Frankreich und Italien ausstrahlten und noch in großen Texten der spanischen Literatur des goldenen Zeitalters wieder aufschienen. Von den Arabern aber, den feindlichen Mauren, deren Ritterlichkeit schon Alfons der Weise gegenüber der Feigheit der Christen pries, entwarf die spanische Literatur vom 15. Jahrhundert an in Romanzen, Theaterstücken und erzählenden Werken ein zunehmend verklärteres Bild: Die Araber verkörperten das Edle und Gute schlechthin.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Franzbach, Martin: Geschichte der spanischen Literatur im Überblick. Stuttgart 1993.
 
Spanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans-Jörg Neuschäfer. Stuttgart u. a. 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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